Wir von das da unten freuen uns über mitwirkende Gastautor:innen! Mit dem Blog möchten wir eine Platform bieten, auf der persönliche Erlebnisse, Gedanken sowie Ideen ausgetauscht werden. Es kann gut sein, dass wir von das da unten nicht immer der gleichen Meinung, wie unsere Gastautor:innen sind. Solange die Inhalte jedoch nicht diskriminierend sind oder problematische Anregungen schaffen, begrüssen wir einen offenen Diskurs.
Würdest du ein Medikament schlucken, das noch gar nicht erprobt wurde? Das weder an Tieren noch an menschlichen Zellen und erst an wenigen Menschen getestet wurde?
Ich bestimmt nicht. Aber Frauen* nehmen täglich Medikamente, die weder an weiblichen Zellen, noch an weiblichen Versuchstieren und nur ungenügend oder gar nicht an Frauen* in klinischen Studien getestet wurden.
Ist das schlimm, macht das Geschlecht denn einen Unterschied? Oh ja, und zwar je nach Krankheit einen beträchtlichen. Unsere Geschlechtschromosome beeinflussen sämtliche Körperfunktionen: Hormone, Gewebe, Systeme sowie fast alle Krankheiten, an denen wir leiden und wie diese behandelt werden sollten. Von diesen markanten Geschlechtsunterschieden wissen nicht nur wir Laien viel zu wenig, sie werden in den klassischen medizinischen Lehrbüchern kaum thematisiert.
Es ist schwer zu glauben, aber auch in unserem teuren, vermeintlich fortschrittlichen und modernen Gesundheitssystem gilt nach wie vor der (junge) Mann als Prototyp, als Mass aller Dinge, als Normalfall. An ihm wird geforscht, gelehrt und getestet. Als Folge davon werden Frauen* in der Medizin benachteiligt und ihre Leiden ignoriert. Dass weibliche Symptome aus Ausnahme von der Regel gelten und weit weniger bekannt sind, kann fatale Konsequenzen haben.
Ein Beispiel aus meiner Schulzeit: Könnt ihr euch auch noch an den Film erinnern mit dem Bauarbeiter, Ende fünfzig, mit der Zigi im Mundwinkel? Im einen Moment plaudert er noch mit seinen Kollegen, dann fasst er sich plötzlich an die linke Brustseite, steht gebückt da, atmet sichtlich schwer. So sieht ein typischer Herzinfarkt aus, lernen wir aus dem kurzen Video. Uns früh auf die Symptome zu sensibilisieren ist wichtig, da bei einem Herzinfarkt ein schnelles Erkennen der Anzeichen und Alarm-Schlagen überlebenswichtig ist.
Was ich in der Schule aber nicht gelernt habe, und ihr wahrscheinlich auch nicht: Bei Frauen* können sich die Symptome stark unterscheiden, sie leiden z.B. oft an Übelkeit oder Druck im Rücken oder Bauch. Dass wir uns dessen nicht bewusst sind und Herzinfarkte als eine typische Männer*krankheit sehen, ist sehr gefährlich. Bei Frauen* wird ein Herzinfarkt dadurch zu wenig rasch erkannt und sie gehen zu spät ins Spital, wie 2019 auch eine Studie des Stadtspitals Triemli gezeigt hat. Ausserdem werden Frauenherzen seltener vorsorglich untersucht. Als Folge davon sterben in Europa mehr Frauen* als Männer* an Herz-Kreislauferkrankungen. Und wir sprechen hier nicht von einer Randerscheinung: Laut der Schweizerischen Herzstiftung ist der Herzinfarkt die Todesursache Nummer Eins in der Schweiz und weltweit.
Aber wie kann es sein, dass weibliche Symptome als Abweichung der Norm, als Sonderfall behandelt und höchstens irgendwo in der Fusszeile erwähnt werden?
Die Gründe sind zum Teil praktischer Natur: In der Forschung sind Studien mit Frauen* aufwändiger, teurer und dauern länger, weil zyklusbedingte Hormonschwankungen die Ergebnisse beeinflussen können. Auch hormonelle Einflüsse der Pille oder Wechseljahre müssen berücksichtigt werden, was die Studien komplizierter macht. Frauen* sind in der klinischen Forschung deshalb systematisch unterrepräsentiert und Medikamente oft nicht auf den Organismus der Frau* ausgerichtet. Dadurch wird zu spät erkannt, dass Medikamente bei Frauen* eine andere Wirkung haben als bei Männern* oder Frauen* eine andere Dosierung bräuchten. Im Jahr 2002 wurde z.B. ein Fall von einem häufig verschriebenen Herzmedikament bekannt, das für Männer* lebenserhaltend war, das Leben von herzkranken Frauen* aber verkürzte. Auch die Nebenwirkungen unterscheiden sich bei fast der Hälfte der gebräuchlichsten Medikamente je nach Geschlecht, wie Prof. Catherine Gebhard von der Universität Zürich jüngst in der Sonntagszeitung schilderte.
Ein weiterer Grund für das Ungleichgewicht ist, dass - wie so oft, wenn wir von Geschlecht sprechen - biologische und soziokulturelle Faktoren zusammenspielen. Ein Beispiel dafür sind Depressionen, die doppelt so häufig bei Frauen* als bei Männern* diagnostiziert werden. Das liegt auch daran, dass im vorherrschenden Bild von Männlichkeit kein Platz für Ängste, Traurigkeit und Schwäche ist. Bei Männern* bleiben Depressionen also oft nicht erkannt. Und das zeigt einen weiteren wichtigen Aspekt dieses Themas: unter dem Unwissen über die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Medizin leiden auch Männer*.
Auch wenn das Thema langsam an Aufmerksamkeit gewinnt und jährlich 8000 Fachartikel dazu erscheinen, werden die Erkenntnisse nach wie vor kaum umgesetzt. Immerhin wurde an der Universität Zürich ein gewisser Handlungsbedarf erkannt, der Aufbau eines Instituts und einer Professur für Gendermedizin sind in Planung. Prof. Gebhard hat mit Kolleg*innen ausserdem einen neuen Schweizer CAS in “Sex- and Gender-Specific Medicine” gegründet. Um ein generelles Umdenken bei der Ärzteschaft, den Hochschulen und der Industrie zu erreichen, wird es aber wohl noch viele solcher Anstrengungen brauchen.
Für mich als Kantonsrätin steht dabei vor allem eine Frage im Zentrum: Was kann die Politik tun? Diesen Sommer hat der Nationalrat ein Postulat meiner Parteikollegin Laurence Fehlmann Rielle überwiesen. Der Bundesrat wird in den nächsten zwei Jahren in einem Bericht darlegen, inwiefern Frauen* in der medizinischen Forschung, Prävention und Versorgung benachteiligt werden und welche Massnahmen dagegen ergriffen werden können. Ein guter erster Schritt, aber ich möchte nicht zwei Jahre Däumchen drehen. Der Kanton Zürich ist einer der bedeutendsten Forschungs- und Bildungsstandorte der Schweiz. Hier wird Spitzenmedizin von Weltklasse betrieben. Ich verlange von der Regierung in einem Postulat, ihre Verantwortung für eine chancengleiche medizinische Versorgung, Forschung und Prävention im Kanton wahrzunehmen.
Als Bürger*innen können wir erwarten, dass dabei nicht die Hälfte der Bevölkerung als Sonderfall übersehen wird.
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